- Story
«Teil einer lebendigen Kultur»
05.10.2022 Prof. Dr. Karolina Soppa gibt Auskunft über die Planung von vorsorglichen Massnahmen zum Umgang mit dem Flügelaltar der Kirche St. Calixtus in Brienz/Brinzauls.
Interview
Frau Prof. Soppa, der Flügelaltar der Kirche Brienz/Brinzauls gilt als besonders schönes Exemplar. Was macht ihn aus?
Das Retabel, die Rückwand des Altars, steht seit über 500 Jahren an seinem Ort. Das ist sehr selten. Zudem hat das Retabel mit 5,6 Metern eine stattliche Höhe. Das darüberstehende, recht üppige Gesprenge ist zweistöckig und verspielt.
Wie alt ist es genau und wer hat es gebaut?
Die heutige Kirche wurde 1519 geweiht. Daher nehmen wir an, dass das Retabel vor 1519 entstanden ist. Eine Signatur oder Datierung haben wir aber bisher nicht gefunden. Das Werk wurde wohl in Memmingen in der Werkstatt von Ivo Stringel gebaut. Schreiner, Bildhauer, Ornamentschnitzer, Vergolder, Maler, Fassmaler und Schmiede arbeiteten Hand in Hand.
Aus welchen Materialien wurde es gebaut und veredelt?
Der Hauptgrundstoff ist Holz; überwiegend Nadelholz. Für die Schnitzerei, die Reliefs und die Skulpturen wurde Lindenholz verwendet. Die Verbindungen der Einzelteile dürften gesteckt und mit Nägeln und Dübeln aus Holz oder mit Eisennägeln verstärkt worden sein. Die Verbindungen wurden stellenweise mit Stoffen kaschiert und die Flächen mit Kreide, Leim oder Öl grundiert und geschliffen. Darauf kamen Malereien und verschiedene Vergoldungen, wobei zum Teil Blattgold verwendet wurde, das 250 Mal dünner ist als menschliches Haar. Die Vielfalt und Raffinesse der Handwerkskunst an diesem Werk ist faszinierend!
1874 fiel Brienz/Brinzauls einem verheerenden Dorfbrand zum Opfer. Der Altar überstand den Brand, wurde aber schwer beschädigt. Wie viel vom eigentlichen Original ist denn noch erhalten?
Das Meiste scheint noch erhalten zu sein, aber Genaueres wissen wir noch nicht. Fest steht: Die Schreinrückwand und das Predellengehäuse sind rekonstruiert, aber die Skulpturen und Reliefs sind Originale. Wie viel vom Original noch unter der Übermalung schlummert, können erst genauere Untersuchungen zeigen.
Sie prüfen zurzeit, ob und wie man den Altar aus der Kirche wegbringen könnte, falls das Dorf evakuiert oder gar umgesiedelt werden müsste. Was klären Sie ab?
Zuerst prüfen wir den Zustand und die bestehenden Schäden sowie die Frage, ob die einzelnen Bestandteile angefasst werden dürfen oder ob dann die Farbe abfallen würde. Noch schlimmer wäre es, wenn das Holz morsch wäre. Als Nächstes klären wir den Aufbau des gesamten Werks, um einen Abbau und einen späteren Wiederaufbau besser planen zu können. Dafür haben wir aus etwa 300 Einzelfotos ein hochauflösendes Bild erstellt. Zudem vermessen wir das Retabel photogrammetrisch. So können wir dann Kisten, Transportrahmen und andere Behältnisse für eine Evakuierung herstellen. Wir haben auch Mikroproben entnommen, um einige Schäden besser zu verstehen. Zu guter Letzt stellt sich die Frage, wo die Kisten mit den Teilen eingelagert werden könnten und was man aus restauratorischer Sicht mit den eingelagerten Teilen machen könnte.
Kann man denn den Altar in seine Teile zerlegen oder würde man ihn damit beschädigen?
Jedes Handling birgt das Risiko einer Beschädigung. Aber mit genügend langer Vorlaufzeit für die Planung ist es gut machbar. Viel Zeit werden die Konsolidierung der Farbe und die Reinigung benötigen, denn die Farbe hält nicht mehr gut auf dem Untergrund und Schmutz und Schimmel müssen sehr vorsichtig entfernt werden. Eine Evakuierung ist also sehr aufwändig und wir würden sie nur empfehlen, wenn die Gefahr bei einem Bleiben zu hoch ist oder eine Bearbeitung der Bestandteile in einer Werkstatt besser und mit einem geringeren Risiko machbar ist.
Was wäre bei einer Evakuierung die grösste Schwierigkeit?
Ganz klar der Zeitmangel. Falls wir nicht genügend Zeit zum Vorbereiten, Rahmen- und Kistenbauen, Notkonsolidieren, Reinigen und Dokumentieren hätten, könnten wir keinen geordneten, sicheren Abtransport durchführen. Zudem konnten wir viele Teile des Gesprenges noch nicht genau untersuchen. Bei einer Demontage können verrostete Schrauben abbrechen, Steckverbindungen oder Oberflächen beschädigt werden.
Wie rasch wäre eine Evakuierung möglich, wenn die Zeit drängen würde?
Je schneller es gehen muss, desto höher ist das Schadenrisiko. Je mehr Vorbereitungszeit, desto schneller kann abgebaut werden. Beim Brand 1874 konnte viel sehr schnell gerettet werden, aber das Werk hat darunter auch deutlich gelitten.
Wer ist in das Projekt alles involviert?
In unserem kleinen Kernteam arbeiten ein auf Holz und 3-D Techniken spezialisierter Restaurator sowie zwei Gemälde-Skulpturen-Restauratoren. Dazu ein Analytiker zur Materialuntersuchung, ein auf Kulturgut spezialisierter Geologe und eine Kunsthistorikerin. Fachleute aus anderen Spezialgebieten ziehen wir bei, wenn wir sie brauchen. Zudem schreiben sechs Studierende der Hochschule der Künste Bern Semesterarbeiten zum Retabel. Die kantonale Denkmalpflege unterstützt unsere Arbeiten seit dem ersten Tag und natürlich stehen wir auch mit der Kirchgemeinde in einem engen Austausch.
Wie gut ist denn der Zustand des Altars eigentlich heute? Müsste er restauriert werden?
Das Retabel sieht von weitem sehr intakt aus, aber wenn man näher herangeht und die Oberfläche untersucht, wird klar, dass viel zu tun ist. Das Retabel ist vor 40 Jahren zuletzt nur notdürftig restauriert worden, weil damals das nötige Geld nicht da war. Umfassend bearbeitet wurde es vor 120 Jahren. Das Gesprenge ganz oben konnten wir bisher nur von Leitern aus untersuchen. Sobald wir mit einem Gerüst von hinten herankommen, lässt sich mehr zum Zustand sagen.
Muss bei einer Restaurierung möglichst alles «alt und original» bleiben, oder darf man Beschädigtes auch ersetzen oder neu machen?
So vielfältig die Kunst ist, sind auch ihre Erhaltungsstrategien. Bei diesem spätgotischen Kunstwerk und in unserem Kulturkreis versuchen wir grundsätzlich, wann immer es geht, das Originale oder später Zugefügte zu erhalten. Das Werk ist schliesslich ein Unikat. Es stecken immer noch sehr viele Informationen in dem originalen Material. Einmal abgenommen, können wir es nicht wieder rückgängig machen. So betrachtet, ist das Retabel wie ein lang gereifter Whisky: Je älter, desto wertvoller. Zum einen sind sehr alte Werke seltener und zum anderen altert jeder Gegenstand auf andere Weise. Eine Oberfläche, die 500 Jahre lang gealtert ist, hat einen unschätzbare Wert und hat eine einzigartige Qualität. Dazu kommt, dass dieses Retabel seit 500 Jahren von der Gemeinde aktiv genutzt wird. Es ist nicht nur ein Museumsstück, sondern Teil einer lebendigen Kultur. Sollten in dieser Kirche einmal keine Messen mehr abgehalten werden, würde auch ein immaterielles Kulturgut und ein Teil der Identität der Kirchgemeinde verloren gehen.