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Demenz: Der Lebensqualität auf der Spur
28.11.2024 Wie steht es um die individuelle Lebensqualität von Menschen, die an einer Demenz leiden? Dieser Frage wollen drei Forscherinnen der BFH mit einer Studie auf den Grund gehen.
Das Wichtigste in Kürze
- Demenzerkrankungen nehmen weltweit zu. Bis 2050 dürften allein in der Schweiz 315'000 Menschen daran erkrankt sein.
- Drei Forscherinnen der BFH wollen untersuchen, wie Betroffene ihre persönliche Lebensqualität empfinden.
- Die Studie soll Optionen aufzeigen, wie Betroffene und Angehörige mit der Erkrankung umgehen können. Thema ist auch der assistierte Suizid.
Anthony ist aufgebracht. In der ganzen Wohnung hat er seine Armbanduhr gesucht. Vergeblich. Ah genau, es war die Haushälterin, sie hat die Uhr gestohlen. Anthony lässt sich nicht von seiner Beschuldigung abbringen, er wettert in einem fort gegen die Frau.
Als seine Tochter die Uhr an einem Ort findet, wo er nicht nachgeschaut hat, erheitert sich Anthonys Laune wie auf Knopfdruck, der Vorwurf des Diebstahls ist in die Sphären des ewigen Vergessens entschwunden. Der Schauspieler Anthony Hopkins mimt im Film «The Father» so meisterhaft einen Rentner mit Demenz, dass nicht wenige Angehörige etwa in der Szene mit der Uhr ihren Partner, Vater oder Freund, der an der Krankheit leidet, gesehen haben dürften.
34'000 Diagnosen jährlich
Demenz ist weltweit auf dem Vormarsch, in einer alternden Gesellschaft nimmt der Anteil an Menschen zu, bei denen Krankheiten die Funktion und Fähigkeiten des Gehirns beeinträchtigen. Nach Schätzungen des Bundes leben in der Schweiz über 150'000 Personen mit einer Demenz, knapp 34'000 Menschen erhalten jährlich eine entsprechende Diagnose. Bis 2050 dürfte die Zahl der Demenzerkrankungen auf 315'000 ansteigen.
Wie reagieren die Betroffenen auf den Umstand, dass ihre Geisteskraft sukzessive und unwiederbringlich schwindet? Während die einen sich mit der Erkrankung arrangieren und versuchen, ihrem Leben so viel Erbauliches wie noch möglich abzugewinnen, sprechen andere einer Existenz mit fortschreitender Demenz jegliche Qualität ab.
«Sicheren Hafen» schaffen
Wie es um die individuelle Lebensqualität von Menschen mit einer Demenz bestellt ist, wollen die drei BFH-Forscherinnen Eva Birkenstock, Eva Soom Ammann und Regula Blaser ergründen. Gleichzeitig wollen sie Grundlagen erarbeiten und so einen «sicheren Hafen schaffen», wie es Eva Birkenstock ausdrückt. In diesem sollen Betroffene und Angehörige in Ruhe und ohne äussere Einflüsse für sich entscheiden können, wie das Leben mit der Krankheit in ihrem Sinne gestaltet werden kann.
Obwohl das Bewusstsein in der Gesellschaft für das Thema zugenommen hat, hängt ihm gemäss Eva Birkenstock noch immer das Etikett des Stigmas an. «Demenz ist mit mehr Scham behaftet als Herzerkrankungen oder Bluthochdruck. Sie betrifft nicht nur den Körper, sondern die ganze Person und auch ihre Identität.» Eine Diagnose löse Angst vor dem Verlust der geistigen und kognitiven Fähigkeiten und damit elementarer Merkmale des Selbstverständnisses eines Menschen aus, so Eva Birkenstock.
Festlegen oder anpassen
Wie gehen die Betroffenen mit der Angst und der Krankheit um? Grundsätzlich lassen sich nach Angaben der Forscherin zwei Wesenszüge unterscheiden: Die einen Menschen wollen so weit als möglich im Voraus festlegen, wie sie ihr Leben gestalten, die anderen passen sich immer wieder an sich neu ergebende Lebensumstände an.
Für uns steht die persönliche Freiheit der einzelnen Menschen im Zentrum.
Während Personen aus der ersten Gruppe sich nicht vorstellen können, die Kontrolle über die eigene Existenz zu verlieren und bei ihnen vermutlich alsbald der Gedanke an einen assistierten Suizid aufkommt, vermögen jene aus der zweiten Gruppe in den veränderten Umständen eine neue Form von Lebensqualität zu erkennen.
Eva Birkenstock erwähnt das Beispiel von Walter Jens, einem deutschen Professor, bei dem sich mit fortschreitender Demenz neue Vorlieben entwickelt hätten. Früher eine Person des Geistes, die sich intensiv mit Literatur und Philosophie beschäftigte, habe er einen emotionalen Zugang zu Tieren auf einem Bauernhof gefunden und durch die Begegnungen mit ihnen sowie über die Berührungen ungeahnte Freude empfunden.
Lebensqualität versus Leben beenden
Mit ihrem Projekt wollen die drei Forscherinnen herausfinden, wie Menschen mit Demenz Lebensqualität wahrnehmen, aber auch wie ausgeprägt der Wunsch nach einem begleiteten Suizid ist. Neben Gesprächen mit Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen planen sie auch so genannte teilnehmende Beobachtungen von Erkrankten ein, die sich nicht mehr mit Worten ausdrücken können. Aus dem Verhalten der Menschen erhoffen sie sich Rückschlüsse auf deren Gefühlslage.
Durch das Zusammenspiel von unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie, Psychologie und Sozialanthropologie, welche die Forscherinnen repräsentieren, erwarten sie umfassende Erkenntnisse, wie Betroffene ihre Lebensqualität einschätzen und sie auch empfinden. Ebenso rechnen sie damit, ein vertieftes Verständnis über die Gründe zu gewinnen, warum jemand einem Leben mit Demenz keine ausreichende Wertigkeit mehr abgewinnen kann, um es fortsetzen zu wollen.
Persönliche Freiheit im Zentrum
Die Erkenntnisse sollen die Grundlage bilden für einfach zugängliche, neutrale Beratungsangebote, die Betroffenen und Angehörigen helfen können, ein möglichst vollständiges Bild darüber zu erhalten, was ein Leben mit Demenz kurz-, mittel-, aber auch langfristig bedeutet, welche Optionen sie haben, dieses Leben zu gestalten oder was sie tun können, wenn sie sich dagegen entscheiden.
«Für uns steht die persönliche Freiheit der einzelnen Menschen im Zentrum», fasst Eva Birkenstock zusammen. «Sie sollen herausfinden, wie eine Demenz ihnen noch eine ausreichende Lebensqualität lässt, ohne dem Druck ausgesetzt zu sein, ein Leben mit der Krankheit unbedingt weiterzuführen oder es vorzeitig beenden zu müssen, wenn sie das nicht möchten.»